Schwedens Kampf gegen Karies: Kostenlose Vorsorge und Lördagsgodis

Auch zur Fikapaus essen die Schweden Süßigkeiten (Foto: Tina Stafrén / imagebank.sweden.se).

Last Updated on 5. Oktober 2024 by Inka

Schweden arbeitet seit den 1950er-Jahren daran, die Zahngesundheit seiner Bürger kontinuierlich zu verbessern. Kinder und Jugendliche haben deshalb heute bis zu ihrem 23. Lebensjahr Anspruch auf kostenlose zahnärztliche Versorgung. Für unseren Sohn flattert die Einladung zur Kontrolluntersuchung ein- bis zweimal pro Jahr ins Haus, je nach dem, wie viel sich im Milchgebiss gerade so tut. Auch die Empfehlung, nur samstags zu naschen, soll die Zähne schützen. Doch wie konsequent sind die Schweden eigentlich? Zum Tag der Zahngesundheit am 25. September bin ich der Frage auf den Grund gegangen.

Als die erste Einladung zur Vorsorgeuntersuchung kam, war Sohnemann etwa drei Jahre alt; damals führte uns der Termin noch in die Zahnarztpraxis bei uns im Ort. Seit die Räumlichkeiten aber auf unbestimmte Zeit geschlossen sind und nicht jeder ins ca. 30 Kilometer entfernte Tingsryd fahren kann oder will, musste eine Alternative her. Jetzt schlägt der Zahnarztlaster alle paar Wochen sein Lager direkt vor unserer Schule auf. Das ist wirklich superpraktisch. Und wie jedes Mal freut sich Sohnemann auf den Besuch. Er hat gesunde Zähne, es gibt nichts zu tun. „Ich halte einfach eine Viertelstunde meinen Mund auf und werde dafür von der Zahnärztin mit einem kleinen Spielzeug belohnt“, freut er sich.

Der Zahnarztlaster tourt durch Schweden.

Seit Sohnemann in die Schule geht, wird er mehr und mehr selbst zu seinen Zahnputzgewohnheiten befragt: wie oft er seine Zähne putzt, manuell oder elektrisch, ob er fluorhaltige Zahnpasta verwendet, ob Mama oder Papa nachputzen und wie seine Essgewohnheiten aussehen. Solange er berichtet, dass er vor allem Wasser trinkt, Gemüse und Obst mag, Papas selbstgebackenes Sauerteigbrot isst und bis zur nächsten Mahlzeit stets einige Stunden vergehen, sind wir die Vorzeigefamilie. Doch sobald es um Süßigkeiten geht, kippt jedes Mal die Stimmung. So auch diesmal. Als er wahrheitsgemäß antwortete, dass er jeden Tag nach der Schule eine Fikapaus macht, schaute mich die Zahnärztin mit großen Augen an: „Stimmt das?“ Ihre Stimme wurde schrill. „Ja“, sagte ich. „Er darf sich jeden Tag nach der Schule eine kleine Süßigkeit nehmen.“

Schwedische Lördagsgodis: Süßigkeiten nur am Samstag

Auweia. Nun war ich in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Und schon prasselten die Belehrungen auf mich hernieder: über den Einfluss von Süßigkeiten auf die Entstehung von Übergewicht, auf das Risiko für Diabetes und andere ernährungsmitbedingte Krankheiten und – natürlich – auf die Entstehung von Karies. Nun, darüber braucht sie mir wirklich wenig zu erzählen, bin ja selbst vom Fach. Also waren wir mitten in der schönsten Diskussion. Doch dann kam das eine Argument, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte: „Ihr kommt aus Deutschland, gell? Ja, ich glaube, da gelten andere Regeln. Wir Schweden essen Süßigkeiten nämlich nur am Samstag, und deshalb ist Karies bei Kindern auch viel weniger verbreitet.“ Autsch, das hat gesessen.

Nun, was die Karieshäufigkeit bei Kindern angeht, scheint sie zumindest recht zu haben: in Deutschland wurden laut dem Barmer-Zahnre­port 2020 ein Drittel der Zwölfjährigen wegen Karies behandelt, wobei der Report allerdings keine Kinder mit unbehandelter Karies erfasst (zur Quelle). In Schweden haben die Vorsorgeuntersuchungen bei 30 Prozent der Zwölfjährigen Karies ans Licht gebracht (zur Quelle), wobei in diese Zahlen wiederum nur die Kinder einfließen, die die Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Demnach hätte Schweden in Sachen Zahngesundheit tatsächlich die Nase leicht vorn.

Die Vipeholm-Experimente: Wie die Schweden Zucker als Ursache für Karies ausmachten

Das war nicht immer so: zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Zahngesundheit in Schweden sehr schlecht. 1942 hatten 99,9 Prozent der Wehrpflichtigen Karies, und schon bei den Milchzähnen von Dreijährigen war Karies weit verbreitet. 1939 beauftragte der schwedische Riksdag deshalb das damalige Medicinalstyrelsen, die Ursachen von Karies und die Möglichkeiten der Prävention erneut zu erforschen. Frühere Experimente an Gefangenen und Kindern in Waisenhäusern scheiterten, weil sie das Essen untereinander tauschten oder die Einrichtungen nach kurzer Zeit verließen. Diesmal sollte alles stichhaltig sein und solche Fehlerfaktoren ausgeschlossen werden: mindestens 1.000 Probanden sollten über mehrere Jahre beobachtet werden, um repräsentative Ergebnisse für die schwedische Bevölkerung zu erhalten (zur Quelle).

Im Vipeholm-Krankenhaus im östlichen Lund für svårskötta obildbara sinnesslöa fanden die Studienleiter optimale Bedingungen vor: die rund 1.000 Patienten – überwiegend mit geistigen Behinderungen – lebten viele Jahre in derselben Umgebung wie das Personal und aßen dasselbe Essen; außerdem ließen sich in den Stationen stabile Versuchs- und Kontrollgruppen bilden. Die Vipeholm-Experimente liefen von 1945 bis 1955 und bestanden aus drei Phasen: der mit Experimenten zur Vorbeugung von Karies durch Vitamine und Mineralien (1946-1947), der mit Experimenten zur Provokation von Karies mit Hilfe von Süßigkeiten (1947-1951) und der mit Experimenten zur Wirkung von Brot auf die Zähne (1953-1955).

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Die größte Aufmerksamkeit davon hat das Zucker-Experiment erlangt, das der Regisseur John Tornblad 2023 in dem Film Sockerexperimentet thematisiert hat (Trailer oben). Das Medicinalstyrelsen schwenkte dafür eigenmächtig von der geplanten Beobachtungsstudie zu einer Interventionsstudie um. Eingeteilt in acht verschiedene Gruppen bekamen die Patienten verschiedene Mengen an zuckerhaltigen Lebensmitteln zugeteilt, darunter extra hergestellte Karamellbonbons: groß, um lange gekaut werden zu können, und klebrig, damit sie an de Zähnen haften. Die Gruppe mit der höchsten Dosis bekam 24 dieser Bonbons am Tag. Keiner der Patienten wurde zwar zum Verzehr gezwungen, auch Gewalt war verboten. Über die möglichen Risiken aufgeklärt wurden sie jedoch auch nicht. Etwa 630 Bewohner nahmen die Süßigkeiten deshalb ahnunglos an. Alle Teilnehmer entwickelten Karies (zur Quelle).

Obwohl die Vipeholm-Experimente aus heutiger Sicht ethisch abstoßend sind, haben Forscher weltweit von den Erkenntnissen profitiert. So wurden infolgedessen beispielsweise die schwedischen Zahnpflegeempfehlungen vollständig überarbeitet. Zwei der beteiligten Forscher aus Vipeholm, Lisa Swenander Lanke und Bo Krasse, setzten ihre Zusammenarbeit nach Beendigung der Experimente im Jahr 1955 weiter fort und stellten die Hypothese auf, dass eine große Menge an Süßigkeiten an nur einem Tag in der Woche weniger schädlich für die Zähne sei als ein mäßiger Verzehr über alle Tage hinweg. Daraus ist das Konzept der Lördagsgodis entstanden.

Lillördag, Fredagsmys und Lördagsgodis

Ob die Idee, sich die Süßigkeitenportionen einer ganzen Woche für einen Tag aufzusparen, für die Zähne wirklich besser ist, wird selbst in Schweden mittlerweile von vielen Forschern angezweifelt (zur Quelle). Trotzdem halten noch immer viele Familien an den Lördagsgodis fest. Allerdings bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass an den übrigen sechs Tagen in der Woche nicht genascht wird – ganz im Gegenteil.

Stattdessen finden die Schweden viele Gelegenheiten und Anlässe, Süßes zu essen. Da wären beispielsweise die diversen Thementage zum Beispiel zu Ehren des Marzipans (12. Januar), der Semlor (13. Februar), der Mandelkubben (3. März), der Waffeln (25. März), der Polkagrisar (20. April), der Kardemummabullen (15. Mai) oder der Kanelbullar (4. Oktober). Einige dieser Tage werden auch in der Schule gefeiert. Wie oft schon habe ich meinen Jungen von der Nachmittagsbetreuung abgeholt, wo es Pannkaka zum Mellanmål gab oder Eis am Nachmittag. Das ist besonders oft freitags der Fall, denn dann läuten die Schweden das Wochenende gerne mit dem Fredagsmys ein. Fredagsmys bedeutet so viel wie „Freitagsgemütlichkeit“ und beschreibt die Vorliebe, es sich mit Snacks, Süßigkeiten, Softgetränken oder auch Alkohol zuhause gemütlich zu machen. Beliebt sind Süßigkeiten auch am Mittwoch, wenn die Woche kippt. Der Mittwoch wird hier deshalb auch gerne Lillördag genannt, der „kleine Samstag“. Damit, dass unser Sohn in der Nachmittagsbetreuung Cola, Must und Limonade kennengelernt hat, will ich gar nicht anfangen. Oder damit, dass Süßigkeiten und süße Getränke offen für wenige Öre bei den Kinderdiscos zum Beispiel zu Halloween verkauft werden. Oder damit, dass es in den Supermärkten noch immer ein großes Angebot an süßem Brot (zur Quelle) oder Wurstwaren gibt. Oder damit, wie viele Kinder mir beim Wochenmarkt mit einer riesigen Tüte Churros entgegenkamen.

Lösgodis in einem schwedischen Supermarkt (Foto: Lieselotte van der Meijs / imagebank.sweden.se).

Schweden essen weltweit mit am meisten Süßes

Diese Ausnahmen von den Lördagsgodis läppern sich zusammen und machen Schweden zu einer der Nationen, die weltweit die meisten Süßigkeiten essen. Alleine an Schokolade und Konfektwaren kommen so nach Angaben des schwedischen Jordbruksverkets fast 16 Kilogramm pro Kopf und Jahr zusammen – ein Anstieg um 52 Prozent seit 1980. Eine vierköpfige Familie vertilgt also im Schnitt rund 1,2 Kilo davon pro Woche (zur Quelle). Halleluja – das schaffen wir nicht. Und so sind auch in Schweden rund 36 Prozent der Neunjährigen übergewichtig oder sogar fettleibig (zur Quelle).

Wie sagte eine schwedische Mama so schön, als ich bei ihr meinem Ärger über die Zahnärztin Luft machte: „Ja, darin sind wir Schweden gut: samstags essen wir Lördagsgodis und nennen die Süßigkeiten dann ganz offiziell beim Namen. Zur Fikapaus, dem Fredagsmys und am Lillördag essen wir zwar auch Süßes, aber das bezeichnen wir nicht so“, lachte sie.

Und was sollen wir als Eltern nun tun? Auf der einen Seite müssen wir die Mängel bei der Schulspeisung ausgleichen, auf der anderen Seite möchte ich unserem Sohn keine Süßigkeiten vorenthalten und ihn so bestrafen; das führt nur dazu, dass er uns früher oder später gar nichts mehr davon erzählt. Also können wir ihn nur dafür sensibilisieren, Süßigkeiten bewusst und in Maßen zu genießen und auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Nur so schaffen wir einen verantwortungsvollen Umgang mit Zucker.

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