Last Updated on 18. Februar 2019 by Inka
eHealth-Dienste in Schweden: Vom Vorreiter zum Vorbild?
In Schweden können Patienten über das Internet auf ihre elektronische Gesundheitsakte zugreifen, in der Provinz Uppsala seit 2012. Solche eHealth-Dienste sind interessant, denn sie können die Gesundheitssysteme angesichts der steigenden Zahl von Menschen mit chronischen Erkrankungen, stetig steigenden Kosten und einer alternden Bevölkerung entlasten. Was Deutschland ggf. von Schweden lernen könnte, hat Dr. Christiane Grünloh von der TH Köln untersucht. Mir hat die Medieninformatikerin ein paar Fragen dazu beantwortet.
Was ist die Elektronische Patientenakte und wie funktioniert sie?
Dr. Christiane Grünloh: „Die Elektronische Gesundheitsakte enthält Informationen wie Krankenvorgeschichte, Diagnosen, Laborwerte, Befunde, medizinische Verordnungen und vieles mehr. Die Patienten müssen sich online registrieren, der Datennutzung zustimmen und können sich dann über das Patientenportal 1177.se einloggen und darauf zugreifen.
Die elektronische Gesundheitsakte ist keine separate „Patientenakte“, sondern enthält die gleichen Daten, mit denen auch Ärzte und medizinisches Fachpersonal arbeiten. Allerdings variiert, wie viele Daten den Patienten zur Verfügung gestellt werden. Das hängt davon ab, in welcher Provinz man lebt und von welchem Versorger (öffentlich/privat) man behandelt worden ist. Es gibt Provinzen, die wirklich alle Daten zur Verfügung stellen und zwar sofort. Andere geben nur die von den Ärzten abgezeichneten Daten Preis, wieder andere nur mit einer Verzögerung von 14 Tagen.“
Die Einführung des eHealth-Dienstes wurde von Ärzten und medizinischem Fachpersonal im Vorfeld stark kritisiert. Warum?
Dr. Christiane Grünloh: „Die Gesundheitsakte wurde als Arbeitswerkzeug für Ärzte und Fachpersonal verstanden. Man nahm an, dass Patienten die Fachbegriffe nicht verstehen und beispielsweise von Laborergebnissen eher verunsichert als beruhigt sein würden. Darauf basierte die Befürchtung einer erhöhten Arbeitsbelastung, weil Patienten vermehrt Fragen stellen, Ärzte kontaktieren und Korrekturen verlangen könnten. Dies bezog sich auch auf sogenannte unsigned notes, die noch nicht von einem Arzt gegen gezeichnet sind und somit ggf. Fehler enthalten bzw. zu Missverständnissen führen können. Ich weiß von einer Studie aus der Provinz Skåne im Bereich Psychiatrie, wo das medizinische Personal befürchtete, dass sie in Zukunft weniger offen dokumentieren, wenn Patienten die Akte lesen können. Zu mental health records ist der Zugriff für Patienten daher heute in vielen Provinzen gesperrt.“
Ist bekannt, wie die Patienten der Einführung im Vorfeld gegenüberstanden?
Dr. Christiane Grünloh: „Zumindest in Uppsala scheint dies positiv gewesen zu sein. Nehmen wir die von den Ärzten geforderte zweiwöchige Verzögerung als Beispiel. Ob die Daten sofort oder erst nach 14 Tagen einsehbar sein sollten, konnte jeder Patient beim Log-In selbst entscheiden. Laut Abschlussbericht des Entwicklungsprojekts haben nur zwei Prozent (n=760) die Verzögerung gewählt.“
Wie stehen beide Seiten heute – sieben Jahre danach – zu der Elektronischen Patientenakte?
Dr. Christiane Grünloh: „Die Patienten, die im Oktober 2016 an unserer Onlineumfrage teilgenommen haben, sehen die Entwicklung positiv. Sie nutzen das Journal, um sich einen Überblick zu verschaffen, einen Arztbesuch vor- oder nachzubereiten und insgesamt besser informiert und involviert zu sein. Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Umfrage über das Portal zur Verfügung gestellt wurde und sich von den mehr als 420.000 Nutzern in dieser Zeit nur 2.587 beteiligt haben.
Ob Ärzte und Fachpersonal dem Journal noch immer negativ gegenüber stehen, ist schwer zu sagen. Bei den von mir durchgeführten Interviews hatte ich den Eindruck, dass es bislang zu keinen gravierenden schlechten Erfahrungen gekommen ist. Es wurden eher Anekdoten erzählt, zum Beispiel, dass ein Patient seinen Familienstand korrigiert haben wollte bzw. dass eine ältere Patientin wirklich alles las, was in der Akte stand.“
Wie viele Patienten nutzen ihre Akte derzeit?
Dr. Christiane Grünloh: „Laut Inera AB gibt es insgesamt mehr als zwei Millionen registrierte Nutzer. Pro Monat loggen sich eine Million Patienten im Journal ein.“
Ließe sich eine solche Elektronische Patientenakte auch in Deutschland einführen?
Dr. Christiane Grünloh: „Grundsätzlich schon. Die AOK und die Techniker Krankenkasse haben bereits im Alleingang etwas Vergleichbares entwickelt und geben Patienten in einigen Regionen testweise Zugang. Bislang fehlen jedoch die Infrastrukturen, die Schweden mit seiner national health information exchange platform aufgebaut hat. Datenschutz und Datensicherheit sind weitere Themen, die beachtet werden müssen. In Schweden ist beispielsweise das Einkommen der Bürger offen einsehbar und zugänglich, was in Deutschland so nicht vorstellbar ist. Das beeinflusst sicherlich die Erwartungshaltung und Einstellung von Menschen. Generell sind nationale eServices in Schweden üblich und die Menschen erwarten und vertrauen, dass sie sicher sind. Ich bezweifele, dass dies in Deutschland ebenso wäre.“
Das Ziel Ihrer Doktorarbeit war, Fragen zu identifizierten, die vor und während der Konzeption und Implementierung eines solchen Dienstes in Deutschland beantwortet werden sollten. Welche sind das?
Dr. Christiane Grünloh: „Eine wichtige Frage ist, wem die Gesundheitsakte bzw. deren Daten gehören. In Schweden sowie in anderen Ländern wie etwa den Vereinigten Staaten dominierte die Sichtweise, sie sei das „Arbeitswerkzeug“ der Ärzte und des medizinischen Fachpersonals. Auf der anderen Seite geht es um den Körper von Patienten. Ist sie also vielleicht auch eine Akte der Patienten? Schaut man sich die Nothing about me without me Bewegung an, wird dies auch von Patienten so wahrgenommen.
Oder: Welche Daten werden wann und wie dargestellt? Es gibt immer wieder Diskussionen zu Patient Summaries, jedoch gibt es hier von Seiten der Patienten Kritik, dass diese unvollständig und daher wenig hilfreich seien. Auch wenn in unserer Umfrage die meisten Patienten das Gefühl hatten, den Großteil ihrer Akte zu verstehen, sollte man sich dies genauer anschauen: Stimmt dieser Eindruck wirklich? Wie kann man vielleicht trotzdem bessere Unterstützung bieten? Eine Möglichkeit wäre, zu Erläuterungen der Fachbegriffe zu verlinken.
Oder: Wie wird der Dienst eingeführt? In Schweden wurde der Dienst nicht beworben, sondern bekam eher unfreiwillig Aufmerksamkeit durch die Berichterstattung in der Presse. In Australien wurde kürzlich eine elektronische Gesundheitsakte eingeführt, die im Hinblick auf Sicherheit und Design kritisiert wurde. Anders als in Schweden muss man dort der Nutzung nämlich gezielt widersprechen. Auch auf Seiten der Ärzteschaft ist es nicht unkritisch, wie so ein Dienst entwickelt und eingeführt wird. In Schweden hat man dies gegen den Willen der Ärzteverbände getan, was allerdings ein sehr langer Weg war. In Deutschland kann man sich die desaströse Einführung der elektronischen Gesundheitskarte anschauen. Auch hier gab es sehr großen Widerstand und sehr große Sicherheitsbedenken, die nicht unberechtigt sind.
Natürlich muss auch in Betracht gezogen werden, welche möglichen Auswirkungen so ein Dienst für das medizinische Personal hat. Ähnlich wie in Schweden waren Befürchtungen auch in anderen Ländern groß. Schaut man sich die häufig eher veralteten Systeme an, mit denen Ärzte und medizinisches Fachpersonal tagtäglich arbeiten müssen, ist nachvollziehbar, dass das Vertrauen in „noch ein“ System nicht allzu groß ist. Studien in mehreren Ländern haben allerdings gezeigt, dass es nicht zwingend zu einer erhöhten Arbeitsbelastung kommt und Patienten auch eigene Wege finden, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. eHealth Services können das Gesundheitssystem entlasten, da Patienten wie beim Online-Banking einige Aufgaben selbst erledigen können. Gleichzeitig können neue Tätigkeitsfelder entstehen, die entsprechend ebenso vergütet werden müssen.
Wichtig ist, die Kritik von allen Seiten ernst zu nehmen, zu prüfen und entsprechend zu berücksichtigen.“
Welches Potenzial sehen Sie für Deutschland?
Dr. Christiane Grünloh: „Wie bereits genannt, fehlt es an den technischen Infrastrukturen. In anderen europäischen Ländern wurden längst Standards ausgearbeitet, die Interoperabilität und Datenqualität sicher stellen. Da können wir von bereits gemachten Erfahrungen in anderen Ländern viel lernen. Wenn man bedenkt, wie lange es in anderen Ländern bereits elektronische Verordnungen oder Überweisungen gibt, haben wir eine Menge Aufholbedarf. Für Deutschland sehe ich große Chancen, von den Erfahrungen anderer Länder, aber auch im eigenen Land (Stichwort: elektronische Gesundheitskarte) zu lernen.“
Vielen Dank!
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